schraege-musik.de

Lobgesang mit Schatten

Eine komponierte Chronik

Eine Berliner Kirchengemeinde feiert Jubiläum und gibt eine ungewöhnliche Neukomposition in Auftrag: Eine schonungslose „komponierte Chronik“ der eigenen – teilweise düsteren und konfliktreichen – Gemeindegeschichte.

Dass zu einem Jubiläum Musik erklingt, ist nichts Ungewöhnliches. Felix Mendelssohn Bartholdys „Lobgesang“, der am 13. Oktober 2018 zum 125sten Kirchweihfest der Kirche Zum Guten Hirten in Berlin-Friedenau erklang, entstand einst selber als ein Stück Jubiläumsmusik: Mendelssohn schrieb die Sinfoniekantate zum vierhundertsten Geburtstag des Buchdrucks.

Doch angesichts der eigenen, in Teilen düsteren Geschichte mochten es die Gemeinde und ihre Kantorin Svenja Andersohn nicht beim „Lobgesang“ bewenden lassen: Friedenau war im Nationalsozialismus eine Hochburg der Deutschen Christen; früh schon wurde vor dem Altar der Hitlergruß gezeigt, war der Kirchturm mit Hakenkreuzfahne beflaggt; wurden Hochzeitspaare und Konfirmanden mit „Mein Kampf“ beschenkt – aus gemeindeeigenen Beständen. Und auch die Nachkriegs-geschichte der Gemeinde war reich an Dissonanzen: Über Jahre hinweg war der damalige Gemeindekirchenrat in vielen Fragen tief zerstritten, in den achtziger Jahren waren die Klüfte so tief, dass die Gemeinde kurz vor dem Aus stand.

Dies alles gehört zum Glück der Vergangenheit an – der „Gute Hirte“ von heute erfreut sich eines vielfältigen und lebendigen Gemeindelebens. Dankbar für diese harmonische und stabile Gegenwart hat man sich zum 125sten Jahrestag vorgenommen, ungeschönt auf die Vergangenheit zurückzublicken.
Für die Neukomposition trug Kantorin Andersohn über viele Wochen hinweg Material zur Gemeindegeschichte zusammen. Ihr ungewöhnlicher Auftrag an den Komponisten, Autor und Interaktionskünstler Bernhard König: Dem „lichten“, aufklärerischen und hoffnungsvollen Impetus von Mendelssohns Lobgesang ein „schattiges“ Gegengewicht gegenüberzustellen und dabei zugleich möglichst viele Gemeindeglieder einzubinden und auf diese Weise mit musikalischen Mitteln zur historischen Auseinandersetzung beizutragen.

Das endgültige Textbuch entstand binnen weniger Tage in einem experimentellen dialogischen Prozess, der von den Konfirmanden bis zum Seniorenkreis die verschiedensten Gemeindegruppen einbezog. Teile der Musik wurden unter Anleitung des Komponisten in einer zweitägigen generationsübergreifenden Improvisationswerkstatt entwickelt. Zusammen mit Textlesungen aus der Gemeindechronik und Fragmenten aus Mendelssohns Originalmusik ergaben sie in der Aufführung ein einzigartiges Gemeinschafts- und Gesamtkunstwerk: Musikalisch inszeniertes Schuldbekenntnis, klingende Geschichtswerkstatt und zugleich ein Stück experimenteller „Kirchen-Musik“ im mehrfachen Sinn.

Downloads

Das Textbuch als pdf-Download