Das Berliner Schloss Bellevue, seine Architektur und seine repräsentative Funktion als Amtssitz des Bundespräsidenten stehen im Mittelpunkt der raumgreifenden Komposition. Rund 120 Mitwirkende verwandeln den Schlosspark in eine Klanglandschaft und die Schlossfassade in eine Simultanbühne. Hotel Bellevue war der Eröffnungsbeitrag des Projekttages „Kinder und Musik!“ beim Bundespräsidenten und entstand als Kompositionsauftrag des Deutschen Musikrates eigens für diesen Anlass.
Einige der mitwirkenden Schülerinnen und Schüler haben sich im Vorfeld in Straßenumfragen, Telefon- und Internet-Recherchen mit dem Amt des Bundespräsidenten auseinandergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass die Welt der Diplomatie, der Staatsbesuche und -empfänge, viel mit dem Musiktheater gemein hat. Die richtigen Bilder zu inszenieren, den richtigen Tonfall zu treffen – davon hängt in beiden Metiers oftmals alles ab. So tauchen in unserem Schloss-Spektakel, neben der akustischen „Vermessung“ des Geländes von Schloss Bellevue, immer wieder auch Motive aus der Sphäre der repräsentativen Politik auf. Und für das Finale des Stückes sieht die Partitur sogar den Auftritt eines leibhaftigen Bundespräsidenten vor…
Station 1: Défilée. Interaktion für Passanten, Spieler und einen roten Teppich
Die erste Station in der Eingangshalle des Schlosses versetzt jeden Besucher, ob Kind oder Erwachsener, in die Situation eines Staatsoberhauptes, das mit jedem seiner Schritte ringsum vielfältige Aktivitäten auslöst.
Im Zentrum der Inszenierung: Der berühmte “rote Teppich”, über den bei echten Staatsempfängen die Gäste schreiten. Links und rechts des Teppichs stehen die Schüler der AG Grünstadt und wer den Teppich betritt, löst damit musikalische Aktionen aus. Um diesen Teil proben zu können, wurde er vorab in Grünstadt einen Vormittag lang mit über hundert Grundschulkindern ausprobiert.
Station 2: Staatsbesuch
Die zweite Station greift die Inszenierungselemente eines Staatsbesuches auf: Hymnen, Begrüßungen, militärische Ehren.
Hier war in der Erarbeitung insbesondere das Element der Völkerverständigung wichtig: In einem mehrtägigen Theaterworkshop haben die Spieler eigene „fremde“ Sprachen erfunden und versucht, sich in diesen fremden, wechselseitig unverständlichen Sprachen einander anzunähern und zu kommunizieren. Dabei wurde den Spielern – gewissermaßen „am eigenen Leib“ deutlich, wie wichtig symbolische Handlungen als Verständigungsmittel sein können. Eine zweite vorbereitende Übung bestand darin, in der Rolle eines „prominenten Staatsgastes“, flankiert von Bodyguards und Fotographen, durch eine belebte Fußgängerzone zu gehen und zu erleben, wie sich dabei die eigene Selbstwahrnehmung verändert. Diese Erfahrungen wollen wir in unserer Zuschauer-Animation an die Besucher des Projekttages weitergeben: Hier werden Kinder aus dem Publikum in die Rolle der Staatsgäste schlüpfen, die in einer fremden Sprache begrüßt und feierlich geehrt werden.
Partiturbeispiel >> Staatsbesuch
Station 3: Klanglandschaft Schlosspark
Draußen im Schlosspark finden sich die Besucher derweil in einer musikalischen „Klanglandschaft“ wieder. Rund 40 Blechbläser von verschiedenen Berliner Schulen sind im Park verteilt und befinden sich in einem musikalischem Dialog mit der Architektur und besonderen Aura der Gartenlandschaft.
Station 4: Präsidentenquartett
Quelle der Textcollage war das Internetarchiv des Bundespräsidialamtes. Zu Beginn der Textarbeit lasen wir eine Reihe von Reden und verglichen sie mit den Mainzer Landtagsreden, mit denen wir vor zwei Jahren bei unserem Projekt Plenarmusik gearbeitet hatten. Bei diesem Vergleich wurde deutlich, zu welcher Vielfalt von Themen ein Bundespräsident im Laufe seiner Amtszeit Stellung beziehen muss. Gleichzeitig wurden wiederkehrende Muster sichtbar („Ich freue mich …“), die zu einem zentralen Strukturelement der Textcollage wurden.
Um einen Bogen zur anschließenden „echte“ Begrüßungsansprache des Bundespräsidenten zu spannen, wurde diese mit einem Violinsolo unterlegt.
Partiturbeispiel >> Präsidentenquartett
Station 5: Fassadenmusiktheater
Beim abschließenden „Fassadenmusiktheater“ verteilen sich die Musiker und Darsteller über die gesamte Fensterfront zur Parkseite. Schüler der AG Grünstadt und einer Berliner Theatergruppe haben als Choreographie für diesen Schlussteil eine Abfolge von kleinen pantomimischen Szenen zum Thema „Macht und Repräsentation“ entwickelt, die an den geöffneten Fenstern gespielt werden.
Ein Werkstattbericht ohne Töne (April 2003)
Die Arbeit eines Komponisten stellt man sich gemeinhin als eine Arbeit mit Tönen vor: Ein Komponist ist einer, der Melodien erfindet oder musikalische Formen konstruiert, Noten auf’s Papier bringt oder die eigenen Partituren einstudiert. Im vorliegenden Werkstattbericht wird von alledem nicht die Rede sein, denn bei einem Projekt wie dem hier zu beschreibenden kann es schon einmal vorkommen, dass die „kunstfernen“ Nebentätigkeiten das „eigentliche“ Komponieren bei weitem überwiegen oder sogar gänzlich in den Hintergrund drängen.
Als mich im Dezember vergangenen Jahres die Anfrage erreichte, ob ich einen Beitrag zu einer Veranstaltung „Musik für Kinder“ in Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, beizusteuern hätten, war die Grundidee des künftigen Stückes schnell formuliert: Eine „Fassadenmusik“, in der die gesamte Schlossfassade mitsamt dem umliegenden Schlossgelände musikalisch inszeniert wird. Und in der, vielleicht auf einer theatralischen Ebene, Motive aus der Geschichte und repräsentativen Funktion dieses Ortes anklingen: Ein Spiel mit den Insignien und Ritualen von Staatsbesuchen und feierlichen Banketts.
Als Ausführende, soviel war von Anfang an klar, würde eine große Zahl von jugendlichen Blechbläsern und Saxophonisten benötigt werden. Eine zentrale Phantasie war die der Schlossfassade mit sich öffnenden und schließenden Fenstern, hinter derer jedem eine Bläserin oder ein Bläser postiert ist.
Für die szenischen und stimmlichen Elemente des geplanten Stückes wünschte ich mir eine Anknüpfung an die bewährte Zusammenarbeit mit der „AG Neue Musik“ des Grünstädter Leininger-Gymnasiums. Ein Jahr zuvor hatten wir gemeinsam ein Tanztheater für den Plenarsaal des Mainzer Landtages entwickelt: Ein Stück über die Rituale des Parlamentarismus, die Selbstinszenierung von Politikern und die Zwängen, denen sie in der irrsinnigen Maschinerie der aktuellen Medien ausgesetzt sind.
So weit die Vision. Sie nun aber im stillen Schreibstübchen weiter zu entwickeln, wäre verlorene Mühe gewesen. Wer ein Stück für Sinfonieorchester schreibt, das in einem professionellen Konzertsaal zur Aufführung kommt, der wird mit klar definierten Rahmenumständen und mit optimierten Proben- und Aufführungsbedingungen rechnen können: Vom Notenpult bis zur Applausordnung ist für alles gesorgt. Bei einem „extravaganten“ Projekt wie dieser Fassadenmusik (das vielleicht auf den ersten Blick ein viel größeres Maß an künstlerischer Freiheit ausdrücken mag) besteht der größte Teil der Arbeit in Wahrheit im Aufspüren und Sammeln von äußeren Sachzwängen. Das, was manche Komponisten über ihre Arbeit am Schreibtisch berichten – jeder einzelne Ton wirkt sich auf’s Ganze aus – gilt auch hier: Jeder Sachzwang, und sei er noch so prosaisch, wird dem Ergebnis seinen Stempel aufprägen (und neue Sachzwänge hervorbringen).
Meine Arbeit als Komponist beschränkt sich also für eine Phase, die Wochen oder Monate andauern kann, darauf, die richtigen Fragen zu finden und zu stellen: Welche Sicherheitsbestimmungen sind bei der Arbeit im Schloss zu beachten? Wie verständigen sich zwei Musiker, die an weit auseinanderliegenden Fenstern des Schlosses stehen und „miteinander“ spielen sollen? Wie sind die akustischen Bedingungen im Park? Sind die Kontaktpersonen vor Ort – ohne die letztlich „nichts läuft“ – dem Projekt gewogen? Woher bekomme ich eine so große Zahl von Blechbläsern? Welchen technischen Standard werden sie haben? Wann haben die beteiligten Schulen ihre beweglichen Ferientage? Wer beaufsichtigt die Schüler während der Proben? Ganz zu schweigen von all den Fragen des Finanzbudgets oder der Probenplanung …
Noch ist, zum Zeitpunkt dieses Berichtes, ein halbes Jahr vor der Aufführung, die Sachzwänge-Sammlung nicht abgeschlossen, doch viele Zeichen stehen günstig: Eine sehr große Aufgeschlossenheit und Kooperationsbereitschaft auf Seiten des Bundespräsidialamtes. Gute Aussichten auf eine Zusammenarbeit mit den Schulbigbands und –ensembles von fünf Berliner katholischen Schulen.
So werde ich mich wohl, wenn alles gut geht, irgendwann in den nächsten Wochen tatsächlich daranmachen, auch einige Noten auf’s Papier zu bringen. Ähnlich, wie sich die Komponisten vergangener Jahrhunderte an mehr oder weniger strengen Formmodellen abarbeiteten (Fuge, Sonatensatz …), die sie mehr oder weniger individuell mit Inhalt füllten, werde ich dann (hoffentlich) einen vieldimensionalen Rahmen definiert haben, in den ich meine Musik „hineinkomponieren“ und die szenischen Aktionen “hineininszenieren” kann. In der Hoffnung, dass sich dann am Ende, in der Aufführung, letztlich doch wieder Freiheit entfalten kann und von Sachzwängen nichts mehr zu spüren ist.
PS.: Ein halbes Jahr später bin ich klüger…
... und weiß nun, dass die wichtigsten und kompliziertesten Fragen nicht auf der Ebene der Logistik, der akustischen Gegebenheiten oder der Sicherheitsbestimmungen zu lösen waren, sondern auf der Ebene der Diplomatie und politischen Repräsentation. Die Würde des Amtes wurde zu einer der wichtigsten Akteurinnen des Kompositionsprozesses; sie einerseits zu wahren und andererseits den (mitunter recht respektlosen) szenischen Ideen der Schülerinnen und Schüler Raum zu geben, erwies sich als die größte Herausforderung dieses Projektes.
Eine der schönsten Aufführungen stand gleich am Anfang des Musikfestes beim Bundespräsidenten. Über einhundert Schülerinnen und Schüler aus Rheinland-Pfalz, Berlin und Brandenburg verwandelten das präsidiale Schloss, seine Fassade und seinen Park in eine Klanglandschaft. Die Texte hatten sie Johannes Rau selbst vom Munde abgeschaut. Diplomatische Floskeln und ernst gemeinte Mahnungen kombinierten sie mit schematischen Körperbewegungen. Vom Kölner Komponisten Bernhard König stammte die Musik. Aus der Mitte dieser musikalisch-protokollarischen Parodie kam er dann doch – der Gastgeber, Bundespräsident Johannes Rau. Die jungen Leute begrüßten ihn fast wie einen Pop-Star.
(WDR 3, Resonanzen, 10.9.2003)
Das Stück „Hotel Bellevue“ setzt die Riten und Zwänge aus der Welt der Diplomatie in Musiktheater um. (...) Die renommierte Grünstädter AG unter Leitung von Silke Egeler-Wittmann übernahm in der sechsteiligen Inszenierung des Kölner Konzertpädagogen und Komponisten Bernhard König unter anderem den „Empfang“ in der Eingangshalle des Schlosses, bei dem der Gang der einzelnen Besucher auf dem roten Teppich musikalische Aktionen der Spalier stehenden Grünstädter auslöste. (...) Fünf Solisten des Leininger Gymnasiums gestalteten anschließend das „Präsidentenquartett“, eine musikalisch begleitete Collage aus Redefragmenten des Bundespräsidenten.
(Die Rheinpfalz, 10.9.2003)
Als das Fest mit einer eigens für diesen Tag komponierten und von Schülern sehr ausdrucksstark inszenierten „Schlossmusik“-Performance begann, knisterte es nur so vor Spannung im wunderbar gestalteten Schlossgarten.
(Barbara Stiller in nmz, 10/2003)
Probenbericht
„Zweimal Einzelschatten, dann Nachäffen, dann Doppelschatten!“ Was für Außenstehende wie eine abstruse Geheimsprache klingt, ist für die Schülerinnen und Schüler der AG Neue Musik am Leininger-Gymnasium Grünstadt eine klare Regieanweisung (...). An diesem Tag will die Gruppe in der Turnhalle der Bockenheimer Grundschule das Spalierstehen am roten Teppich proben. Zu diesem Zweck lassen sie ahnungslose Bockenheimer Grundschüler einzeln zwischen den beiden Reihen hindurchgehen, um deren Schrittrhythmus mit verschiedenen Geräuschen „musikalisch“ umzusetzen. Wenn Silke Egeler-Wittmann beispielsweise ruft: „Wolke – Maschine“, heißt das, dass die Gymnasiasten den Gang des Passanten durch das Spalier einhüllen in eine Vielzahl individueller Maschinen-Geräusche. Dann wieder sollen sie klingen wie eine Filmdiva oder Mafiosi oder aber mit den unterschiedlichsten Gegenständen (Rasseln, Plastiktüten, Kokosnüssen oder Quietschtieren) die Schritte nachahmen. Das irrititert die Bockenheimer Kinder, aber sie merken schnell, dass das kein alberner Hokuspokus ist. Die Jugendlichen sind nämlich ernsthaft bei der Sache, kein Kichern unterbricht die Choreographie. Das liegt an der hohen Motivation und Disziplin der Jugendlichen. Meint zumindest Bernhard König, der Komponist von „Hotel Bellevue“, das der Deutsche Musikrat bei ihm in Auftrag gegeben hat. Er kennt die Grünstädter AG aus vergangenen Projekten und hält sie für ein Ensemble, das Profiqualitäten und eine lange Tradition hat. Die Gruppe war für den Kölner Konzertpädagogen und Komponisten die erste Wahl.
(Die Rheinpfalz, 5.8.2003)
AG Neue Musik Leininger-Gymnasium Grünstadt
(Ltg.: Silke Egeler-Wittmann)
AG Darstellendes Spiel, Canisius-Kolleg Berlin
(Ltg.: Stefan Mayr)
Bläserinnen und Bläser der Katholischen Schule Salvator Berlin (Ltg.: Werner Blau)
Bläserinnen und Bläser des Canisius-Kollegs Berlin (Ltg.: Klaus Weißenbach)
Bläserinnen und Bläser des Bernhardinums Fürstenwalde
(Ltg.: Johannes Feiten, Werner Blau, Annette Milchmeyer)
Leistungskurs Musik der Katholischen Schule St. Marien, Berlin
(Ltg.: Thorsten Gietz)
Komposition und Regie: Bernhard König